Portraits & Interviews

Interview mit der Künstlerin Magy Imoberdorf

Die Künstlerin Magy Imoberdorf pendelt zwischen Deutschland und Brasilien. Ich wollte unter anderem wissen, wie sich das auf ihre künstlerische Arbeit auswirkt.

Bitte beschreiben Sie Ihre Ausbildung.

Ich bin ein Nachkriegskind, aufgewachsen auf dem kleinen Bauernhof meiner Großeltern in der Schweiz. Dort ging ich zur Schule. Weil ich zu rebellisch war, hat man mich mit 13 Jahren zu Nonnen in ein Institut geschickt, wo ich 3 Jahre interniert verbrachte. Mit 16 bin ich zu meinem Vater nach Lausanne gezogen. Er hat mich in eine Wirtschaftsschule geschickt, aber nach einem Jahr konnte ich ihn überreden, mich an eine Kunstgewerbeschule die ECAL (Ecole Cantonale d’Art Lausanne) zu lassen, die ich 5 Jahre besuchte. Jahre später habe ich einen interessanten Kurs in New York an der vom Whitney Museum gesponserten Schule, der New York Studio School, gemacht. Der Kurs war ein Drawing-Marathon. Wir haben zwei Wochen nur gezeichnet, fast bis zum Umfallen. Das ist so gemeint, damit man aufhört zu denken und nur noch ohne jedes Urteil zeichnet. Auch sonst habe ich immer wieder Kurse besucht, damit ich aus der Komfortzone raus kam. Man hat ja die Tendenz, das zu machen, was man am besten kann und bleibt so ein bisschen stecken. Also los und mal anderes probieren. Andere Medien, die andere Hand gebrauchen oder sogar blind zeichnen etc. Und das geht am besten in einem Kurs.

Welche KünstlerInnen haben Sie in Ihrer Laufbahn am stärksten beeinflusst?

Ich glaube, es war David Hockney, weil er so wunderbar zeichnet. Er zeichnet fantastisch mit Bleistift, Feder, Pinsel oder Ipad. Was ich eigentlich am liebsten mache, ist zeichnen; und so habe ich natürlich eine Vorliebe für die Künstler, die zeichnen: Giacometti, Kokoschka, Rembrandt, Rodin und Tausende mehr. Da ich ja in den sechziger Jahren in der Kunstgewerbeschule war, haben mich die Künstler, die gerade die Kunstwelt eroberten, besonders beeindruckt. Fast alle waren figurative Künstler: so wie Robert Rauschenberg, Larry Rivers, Roy Lichtenstein, Alex Katz, James Rosenquist, Jasper Johns, Frida Kahlo, Andy Warhol, Tom Wesselmann, Jim Dine, George Segal, Claes Oldenburg und Magdalena Abakanowicz. Interessiert haben mich auch Egon Schiele, Jean Luc Godard und Glauber Rocha oder The Beatles, New York, Pop Art, Op Art, und die Minimalisten Europas, Bauhaus und die Pop Art Amerikas; auch die ersten Grafitis in Paris von 1969, Le Corbusier, Frank Lloyd Wright und Richard Avedon. Ich liebe alle Künstler, die die Welt verschönern, die Bewunderung erzeugen und vor deren Werken die Leute leise reden oder ganz verstummen.

Sie leben in Sao Paulo, Brasilien, und in Berlin. Befruchtet Sie dieser regelmäßige Ortswechsel künstlerisch?

Ich bin mit 23 nach einem Jahr Paris nach Brasilien ausgewandert und habe mich erstmal einige Jahre von der Schweiz und Europa distanziert. Ein paar Jahre später habe ich mit Europa Frieden geschlossen und seit etwa 10 Jahren bin ich jeweils im Sommer in den beiden Kontinenten. Man lebt ganz unterschiedlich an diesen beiden Orten und je öfter ich nach Europa komme, desto mehr zieht es mich dahin zurück. Ich glaube, meine Wurzeln werden immer magnetischer.

In den 80er Jahren war meine Arbeit sehr farbig. Ich hatte mich von Brasilien inspirieren lassen, wo sogar die Männer sehr vielfarbig angezogen waren (heute leider nicht mehr) und es natürlich  Karneval gibt und wo alles extrem farbig ist. In meiner ersten Ausstellung habe ich riesige Patchworkarbeiten gezeigt, die ich während einiger Jahre weiter entwickelt habe. Danach kamen Zeichnungen mit Wachsstiften in vielen Farben. So ging es weiter. Aber als ich immer mehr nach Europa kam, haben sich die Farben rarer gemacht und so wurde alles mehr monochromatisch, obwohl ich Farben immer noch liebe. Eigentlich ist mir dies erst nach Ihrer Frage aufgefallen und ich danke Ihnen dafür. So wurde ich darauf aufmerksam. Es war mir eigentlich gar nicht so klar und demnächst will ich wieder mehr farbig arbeiten.

Sie nutzen unterschiedlichste Medien für Ihre Arbeiten. Wie arbeiten Sie zur Zeit bevorzugt?

Es gab zwei Zufälle: Der eine war, dass meine Großmutter mir ihre Nähmaschine, eine Elna von 1939, vererbt hatte, die ich nach Berlin mitnahm. Der zweite war, dass ich meine Wirbelsäule operieren lassen musste und so einige Zeit behindert war. Da habe ich eines Tages beschlossen, diese Nähmaschine als Bleistift zu benutzen. Damit habe ich dann Portraits auf alte Stoffe wie Taschentücher, Rolltücher und ähnliches genäht, die ich alle auf dem Flohmarkt am Arkonaplatz in Berlin gefunden habe. Diese hatte ich eins bis zwei Jahre zusammengekauft, weil sie so wunderbare Stickereien haben oder handgewebte Stoffe sind etc. Ich kann einfach schönen Stoffen nicht wiederstehen und so häuften sie sich in meinem Atelier. Aber es musste auch mal etwas daraus entstehen und so kam es hier auch wieder zu einer Patchwork- oder Assemblage- Arbeit.

Eine andere Arbeit, die ich parallel zu den Nähereien mache, sind kleine Skulpturen, eigentlich auch Assemblages, die ebenso auf dem Arkonaplatz geboren sind. Da gibt es Brigitte, Konstantin und Oliver, die alle drei jeden Sonntag wunderbare Kriegsreste und Plastictoys verkaufen und die ich dann mit den Steinchen, die überall in Berlin auf den Strassen liegen, zu Skulpturen zusammen setze.

Bei Ihren Arbeiten mit dem Titel „Clare’s Garden“ haben Sie transparente Polyesterschichten eingesetzt und in den Hintergrund eine Seite eines japanischen Liederbuchs gelegt. Würden Sie uns dazu etwas erzählen?

Claire hatte ein kleines Haus mit einem riesen Garten in Bindow am See gemietet. Da war ich mehrmals zu Besuch. Der ganze Garten war eigentlich wild und voller interessanter Gewächse. Die habe ich dann schon mal fotografiert und danach auf drei Schichten transparentem Polyester gezeichnet. Zuerst zeichnete ich auf Seidenpapier, aber da ich eine Ausstellung in Brasilien hatte, würde dieses Papier bei der 80%igen Luftfeuchtigkeit nicht überleben. Die Schichten bringen die Tiefe in die Zeichnungen, wie sie auf dem Feld zu sehen war. Dann kamen noch die Seiten des japanischen Buches dazu, das auch ein Fund von einem Flohmarkt ist. Diese Seiten sind aus einem 300 Jahre alten Buch mit Liedern von Sommer und Herbst. So kam es schon wieder zu Assemblages aus Zufällen.

In einem jüngst veröffentlichten Künstlerbuch zeigen Sie Arbeiten, die Sie übernäht haben und bei denen lange Fäden herabhängen. Erzählen Sie uns mehr darüber.

Die Fäden sind eigentlich auch ein Zufall. Wenn ich anfing, ein Portrait zu nähen, und dann mit anderer Farbe oder an einer anderen Stelle weiter nähte, ergab es Fäden, die ich eigentlich danach zu verarbeiten gedachte. Aber als ich sie sah, beschloss ich, sie leben zu lassen, und so wurden sie ein wichtiger Teil der „Zeichnungen“. Viele meiner Figuren scheinen zu weinen. Auch ein offenes  Fenster verweht manchmal die Fäden zu einem neuen Bild, und so entsteht wieder eine Zusammenarbeit mit dem Zufall.

Was inspiriert Sie zu neuen Arbeiten?

Alles Mögliche, was um mich herum passiert, besonders Leute oder Funde, oder auch, was so in der Welt passiert. Ich interessiere mich für fast alles und zeichne ständig. Zum Beispiel war ich letztes Jahr bei einer Zusammenkunft meiner Familie in Bettlach in der Schweiz. Das waren über 70 Leute. Ich hatte einen weissen Stoff mitgebracht, man weiss ja nie … den aufgehängt und einfach mal alle fotografiert. Nun zeichne ich alle meine Verwandten, um dann ein Buch zu drucken, das ich jedem bei der nächsten Zusammenkunft mitgebe, obwohl ich weiss, dass die meisten ihr Porträt nicht mögen. Klar, es ist immer eine Interpretation. So habe ich sogar schon Freunde verloren, nur weil ich sie porträtiert habe und sie wütend wurden. Aber ich zeichne weiter Porträts, trotzdem.

Würden Sie uns die Entstehung einer neuen Arbeit von der ersten Idee bis zur Fertigstellung beschreiben?

Meine Arbeiten sind immer ein „work in progress“, ich habe eine Idee zum Anfang eines Weges, aber weiss nicht, wohin er führt. Erst mit der Zeit wird es zu etwas oder auch zu nichts. Ich liebe den Zufall und meine Arbeiten sind voll von Zufällen. Es ist als ob ich mich auf etwas sensibilisieren würde und dann kommt alles irgendwie von selber, aber nicht auf einmal, sondern schön eins nach dem anderen. Meistens sind meine Bilder Assemblages, denn ich verwende alles Mögliche, auch weil ich Vieles sammle, ich behalte sogar die bedruckten Seidenpapiere der Blumen, die ich jeden Samstag in Berlin kaufe. Die werden sicher auch mal zu einer Arbeit gebraucht, vielleicht unter den Familienportraits.

Sie haben gerade in Madrid an einer Gruppenausstellung teilgenommen, wie war diese Erfahrung für Sie?

Oh, das war wunderbar, die Stadt ist ja fantastisch, mit all den Museen, den Velasques, Goyas, El Grecos. Und die Kulturorte wie El Matadero, die Künstler, die Kuratoren, die alle da waren und mit denen man Kontakt haben konnte. Auch die verschiedenen Arbeiten von Figurativ zu Abstrakt waren sehr interessant, und wir Künstler aus Brasilien haben bis heute eine WhatsApp-Gruppe, wo wir uns jeden Tag etwas zuschicken, das uns inspiriert oder wo gerade etwas Tolles gezeigt wird. Ich hoffe, dass ich bei der nächsten Bienale, die in Chile stattfinden wird, wieder dabei sein darf und all diese interessanten Künstler und Kuratoren wieder treffe. Im Atelier ist man ziemlich alleine, hat eine leere Wand oder Papier oder sonst etwas vor sich. Es ist einsam und alles entsteht eigentlich im Dialog mit sich selbst. Da war diese Ausstellung in Madrid wunderbar, um mit anderen Künstlern Kontakt zu haben und Ideen auszutauschen.

Alle Fotos wurden von der Künstlerin zur Verfügung gestellt.