Reportagen

Die Fäden der Moderne: Matisse, Picasso, Miró … und die französischen Gobelins – Eine Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München

Bei dem Begriff ‚Gobelins’ denken wir spontan an französische Schlösser, deutsche Burgen oder auch an besondere Museen. Dort sehen wir zumeist Werke aus früheren Jahrhunderten. Dass es Gobelins auch in der modernen Gestaltung des 20. Jahrhunderts und ebenso aus unseren Tagen gibt, können wir in dieser Ausstellung in der Kunsthalle München erfahren. Sie ist den Tapisserien der Manufacture des Gobelins, der Manufacture de Beauvais und der Manufacture de la Savonnerie gewidmet.

 

Dankenswerterweise beginnt die Ausstellung, die mehr als 60 Werke zeigt, mit Gobelins des frühen 20. Jahrhunderts, die noch der Kunst des 19. Jahrhunderts (oder auch früherer Zeiten) verpflichtet sind. So können wir ermessen, wie groß die Schritte der künstlerischen Entwicklung im 20. Jahrhundert waren.

So zeigt die Arbeit ‚Mobilmachung’ von Louis Anquetin (1861-1932) von 1935 (Entwurf 1921) noch den Einfluss der Malerei von Rubens in der Modellierung der Körper, der Fülle der Details und in den mythologischen Anspielungen.

Der Wandteppich ‚Der Mekong’ (1937, Entwurf 1935) von Pierre-Henri Ducos de la Haille (1897-1972) hat dagegen schon eine modern anmutende Bildsprache, in der eine Allegorie des Flusses Mekong in der Gestalt einer goldenen Götterstatue inmitten einer fruchtbaren Landschaft zu sehen ist. Inhaltlich ist dieser Gobelin noch der Ideologie des Kolonialismus der Zwischenkriegszeit verbunden. Ducos de la Haille hatte 1935 den Auftrag erhalten, einen Zyklus von vier Tapisserien zu Flüssen in den französischen Kolonien zu entwerfen. Letztendlich wurden zwei davon ausgeführt: ‚Der Niger’ und ‚Der Mekong’, letztere hier ausgestellt. Der Auftrag dazu erging in dem Jahr, in dem sich auch schon mit dem Buch ‚Indochine SOS’ der Journalistin Andrée Viollis deutlicher Protest gegen die französische Kolonialherrschaft und ihre Repressionsmechanismen manifestierte.

Der Stilrichtung des Symbolismus begegnen wir in dem Werk ‚Salomé tanzt für Herodes’ des Gustave Moreau-Schülers Pierre Marcel-Beronneau (1869-1937), das 1923 bis 1930 (Entwurf 1923) gewebt wurde. Von Künstlern um 1900 als ‚Femme fatale’ in zahlreichen Kunstwerken gefeiert, begegnet uns hier eine androgyne Salomé, die nicht verführerisch tanzt, sondern vielmehr mit gebieterischer Geste Herodes gegenübersteht, umgeben von Symbolen des drohenden ‚Bösen’: ein blutroter Sonnenuntergang im Hintergrund und sich um den Rand der Tapisserie windende Schlangen.

Ein großer Sprung Richtung Moderne wird sichtbar in dem Zyklus ‚Die Jahreszeiten’ von Jean Lurçat (1892-1966), ein Auftragswerk von 1940, ausgeführt 1940 bis 1966. Lurçat lehnt sich bei diesem vierteiligen Werk an die Farbpalette der ‚Verduren’ (Grüntöne) an, die seit dem 17. Jahrhundert etabliert waren, und kombiniert sie mit einem kräftigen Sonnengelb. Er behält diese Farbkombination für alle vier Jahreszeiten bei, vermag jedoch durch die Gestaltung der Pflanzen und jahreszeitlichen Elemente alle Phasen des Jahres zu zeigen. Diese vier Tapisserien beeindrucken nicht nur durch ihre Größe (325 x 478 cm), sondern auch durch die ganz eigene Formensprache, die eine realistische Darstellung der Details gekonnt so weit in die Abstraktion treibt, dass man keine einzige Pflanze konkret benennen könnte.

Zur Zeit der deutsche Besetzung Frankreichs seit 1940 beauftragte Hermann Göring die Manufacture des Gobelins mit der Erstellung eines Riesenwerkes, das mit geplanten 77,2 Quadratmetern eine ganze Wand in Görings Wohnsitz ‚Carinhall’ bedecken sollte. Bei der Befreiung von Paris 1944 war erst ein Großteil der linken Hälfte fertiggestellt, die jetzt hier gezeigt wird. Die Rundung oben sollte der Deckenwölbung des Raumes folgen; links unten wurde eine Öffnung für eine Tür ausgespart. Der Entwurf von Werner Peiner (1896-1984) zeigte die Erdkugel (hier ist die linke Seite davon zu sehen), umgeben von den allegorischen Figuren ‚Glaube’ und ‚Gesetz’ und den mythologischen Gestalten Apollon und Venus. Kurioserweise zeigt die Karte von Afrika die schon längst nicht mehr existierenden ehemaligen deutschen Kolonien ‚Deutsch-Ostafrika’ und ‚Kamerun’. Technisch ganz auf der Höhe der Kunst der Manufacture des Gobelins, bleibt diese Tapisserie in der künstlerischen Qualität weit hinter dem gewohnt hohen Niveau zurück: In typischer Staatskunstmanier der NS-Diktatur sehen wir traditionellen Klassizismus, jedoch mit unglaublich stereotypen, uninspirierten Figuren. Der megalomane Charakter dieses Werkes ist, auch nur halb ausgeführt, von erschlagender Wirkung.
Denselben ‚Geist’ – oder eher ‚Ungeist’ – atmet Werner Peiners ebenfalls in der Manufacture des Gobelins gefertigte Tapisserie ‚Der Streitwagen der Ochsen oder die Fruchtbarkeit´ (1941-1944, Entwurf 1940). Selten sah man eine so langweilige antike Göttin Ceres und so gleichförmige Ochsen wie hier.

Die 1940er Jahre brachten aber auch schon ganz Anderes hervor, wie Henri Matisse’ ‚Lautenspielerin’ (1947-1949, Entwurf 1946) zeigt. Matisse (1869-1954) erarbeitete die Vorlage für den Gobelin auf der Grundlage des gleichnamigen Gemäldes, indem er dessen fotografische Wiedergabe retuschierte. Er vereinfachte die ursprüngliche Komposition um wenige Elemente (an Tapete und Teppich), ergänzte jedoch eine Bordüre aus ineinander geschlungenen Linien – ein klassisches Element von Wandteppichen seit Jahrhunderten. Dieses Verfahren, eine gemalte Vorlage durch eine retuschierte Fotografie zu ersetzen, machte später auch bei anderen Künstlern Schule. Das Ergebnis bei Matisse ist ganz und gar überzeugend und zeigt eine Lautenspielerin von großer Anmut in den leuchtenden Farben der Mediterranée, die Matisse so liebte.

Von Raoul Dufy (1877-1953) sehen wir zwei Tapisserien, die das Thema des Meeres in einer vereinfachten Formensprache zeigen, die geometrische und organische Formen verbindet: ‚Die Bucht von Sainte-Adresse’, ausgeführt 1966 bis 1968 in der Manufacture de Beauvais (Entwurf 1950), mit drei im Meer badenden ‚Grazien’ und ‚Muscheln am Meeresufer’ (Entwurf 1925, Ausführung 1966), das ganz dem Meer gewidmet ist. Insbesondere bei letzterem Werk fällt die gekonnte Umsetzung des maritimen Sujets mit ihrer eigenen Farbigkeit in die Technik der Tapisserie mit dem Material Wolle auf.

Mit dem fortschreitenden 20. Jahrhundert nimmt die stilistische Diversität der Gobelins laufend zu, analog der Entwicklung in der bildenden Kunst. Jetzt beeindruckt die Vielfalt der verschiedenen Bildteppiche, die hier nur in einigen Beispielen aus der Fülle der Exponate vorgestellt werden können.

Pablo Picassos (1881-1973) Papiercollage von 1937 ‚Frauen bei ihrer Toilette’ sollte ursprünglich schon zu ihrer Entstehungszeit in Aubusson gewebt werden, was jedoch technische Probleme und der beginnende Zweite Weltkrieg verhinderten. Erst 30 Jahre später entdeckte der damalige französische Kulturminister André Malraux die Collage wieder und sorgte für deren Realisierung in der Manufacture des Gobelins (1971-1977). Die drei abgebildeten Frauen sollen Picassos Lebensgefährtinnen Olga Chochlowa, Dora Maar und Marie-Therèse Walter (von links) zeigen. Im Bilderrahmen auf der rechten Seite sehen wir vielleicht ein Selbstporträt Picassos. Dieser dem Kubismus verpflichtete Entwurf wurde entsprechend Picassos Wunsch in Farbe (mit 98 Farben) und in Schwarz-Weiß (mit 12 Farben) ausgeführt.

Zu einer beeindruckenden Vereinfachung von Motiv und Farben kam Joan Miró (1893-1983) mit der ‚Komposition Nr. 2’ von 1956 (ausgeführt 1966), das einen um 90 Grad gedrehten Stier zeigt. Miró nahm hier das lange schmale Format eines japanischen Rollbildes (Kakemono) für ein typisch spanisches Motiv. Wie im Stierkampf die ‚capote’, das ‚rote Tuch’, zieht hier der rote Kreis alle Aufmerksamkeit auf sich mit der fein nuancierten Webstruktur in zwei Rottönen auf schwarzem Grund. Der Stier ‚umschwebt’ als feine weiße Linie die Herausforderung und Gefahr durch das Rot.

Erfreulicherweise finden sich unter den 41 Künstlern der Ausstellung auch acht Künstlerinnen, darunter Sonya Delaunay (1885-1979), Louise Bourgeois (1911-2010), Alicia Penalba (1918-1982) und Jana Sterbak (*1955).
Von Sonya Delaunays ‚Tafel’ (Entwurf 1954, ausgeführt 1990-2000) können wir den Karton in Gouache- und Aquarelltechnik und die fertige Tapisserie nebeneinander sehen. Die Farbfelder in rhythmischer Abfolge und Kreisstruktur in der Manier des von ihr und ihrem Ehemann Robert Delaunay (1885-1941) entwickelten ‚Orphismus’ sind gekonnt in der Webstruktur wiedergegeben. Die Tapisserie leuchtet geradezu!

Ganz anders hingegen Louise Bourgeois’ ‚Heilige Sebastiana’ (Entwurf 1992, ausgeführt 1995-1997) in Schwarz-, Weiß- und Beigetönen, das eine weibliche Version des Märtyrers zeigt. Hier zielen die schwarzen Pfeile auf die weiblichen Rundungen ohne sie zu durchdringen, wie man es auf traditionellen Darstellungen des heiligen Sebastian sieht. Dennoch und unserer Phantasie überlassen ist das Thema von Schmerz und Leiden – hier der Frau – präsent.

Alicia Penalba verbindet auf beeindruckende Weise Tapisserie mit Skulptur. Auf ihrem ‚Triptychon’ (1982-1983, Entwurfsdatum unbekannt) erheben sich vom hellen wollenen Grund grauschwarze skulpturale Formen aus Sisal, Leinen, Samt und Bast. Der Eindruck dieser monumentalen Arbeit (drei Mal 260 x 153,6 cm) ist Schwere, Härte, Kälte.

Jana Sterbak setzt sich mit der Methode des Seriellen auseinander. Hier scheinen alle tradierten Konventionen der Tapisserie im wahrsten Sinne des Wortes ‚in Luft’ aufgelöst: Es gibt keine Entfaltung e i n e s Themas und schon gar keine umlaufende Bordüre. Ihr ‚Auf dem Weg nach Marseille’ (2004-2015, Entwurf 2002) reiht neun Wolkenbilder zu je dreien senkrecht und waagerecht auf. Sie scheinen beliebig ausgewählt mit ihren unterschiedlichen Wolkenformationen und auch beliebig erweiterbar in die Breite und nach oben und unten. Die Flüchtigkeit des Motivs wird in die feste Stofflichkeit der Tapisserie gebracht und entfaltet eine ganz eigene zarte Ästhetik, die die Augen lange festhält.

In diesem letzten Raum der Ausstellung, in dem sich Jana Sterbaks Werk befindet, sehen wir auch Gérard Schlossers (*1931) fotorealistische Arbeit ‚Es riecht gut’ (1981-1987, Entwurf 1975), die keineswegs duftet, jedoch gekonnt eine helle frohe Sommerstimmung heraufbeschwört.

Hier erleben wir auch die große, um nicht zu sagen umwerfende Präsenz von Patrick Tosanis (*1954) Gobelin ‚Freitag’ (2002-2010, Entwurf 1997) aus der Serie ‚Kleidung’. Ohne Wissen, um welche Kleidungsstücke es sich hier eigentlich handelt und worauf sie liegen, faszinieren die gezeigten Stoffe durch ihre Haptik, die durch verschiedene Webtechniken und Materialien entsteht. Die Umsetzung von der Fotovorlage in eine Tapisserie bringt den Charakter der Oberflächen wieder hervor. Eine Zauberei! Und dann haben wir noch nicht von den Farben gesprochen …

Die Ausstellungbesucherin, die vom Handwerk und der Kunst des Gobelinwebens nichts versteht, nimmt dankbar das Angebot eines etwa 7-minütigen Films an, der detailliert alle Schritte zeigt, wie eine Tapisserie auf dem Hochwebstuhl entsteht. Kleine Interviews mit Färberinnen und Weberinnen der Manufacture des Gobelins runden die technischen Erläuterungen ab. Danach ist es vollkommen einleuchtend, dass die Herstellung eines Gobelins, der in der Regel von einer Weberin allein in ihrer ‚Handschrift’ erstellt wird, mehrere Jahre dauern kann.

Für alle LiebhaberInnen der Textilkunst ist diese Ausstellung in München mehr als sehenswert. Möglich ist ein Ausstellungsbesuch in München noch bis 8. März 2020, danach in der ‚Kunsthal’ in Rotterdam von 28. März bis 1. Juni 2020. Der Katalog zur Ausstellung besticht durch kluge Texte und exzellentes Fotomaterial.

Die Historikerin Editha Weber hat eine sehr schöne Rezension zum Katalog zur Ausstellung geschrieben, Sie finden Sie hier.

Alle Fotos in dieser Reportage sind von Birgit Ströbel.

Die Ausstellung ist noch bis zum 8. März in der Kunsthale München zu sehen.
Geöffnet ist täglich von 10 bis 20 Uhr
https://www.kunsthalle-muc.de/