Reportagen

Kulturelle Aneignung am Beispiel von Textilien

Der Begriff „kulturelle Aneignung“ bezeichnet die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur durch Mitglieder einer anderen Kultur. Sie zieht sich teils friedlich und teils gewalttätig wie ein roter Faden durch die Entwicklungsgeschichte des Menschen. Im aktuellen Diskurs muss man verschiedene Aspekte unterscheiden. Unsere Vorstellung von einem Urheberrecht entwickelte sich erst ab dem 18. Jahrhundert, als die Möglichkeit zur Vervielfältigung von Texten und anderen Waren im Zuge der Industrialisierung eine größere Rolle spielte. Davor bewertete man vor allem die handwerklichen Fähigkeiten und nicht so sehr die Originalität. Die industrielle Revolution begann in England, und Deutsche betrieben dort hemmungslos Spionage und fertigten minderwertige Kopien – „Made in Germany“ war anfangs ein Warnhinweis der Engländer für schlechte Qualität. Sobald das Wissen im Land ist, kann man es allerdings weiterentwickeln und so wurde daraus im Laufe der Zeit ein positives Qualitätsmerkmal. Ähnliches sehen wir derzeit in China, wohin die Massenproduktion während der Globalisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgelagert wurde.

Vor dem Hintergrund der europäischen Kolonialgeschichte weist die Critical-White-ness-Bewegung, die in den 1960er Jahren in Amerika gegen die Rassentrennung entstand, auf die Macht und Privilegien weißer Menschen hin. Damit würden sie sich Teile der Kultur diskriminierter Gruppen aneignen und sie verändern und kommerzialisieren. Beispiele dafür gäbe es unter anderem bei Musik und Tanz sowie religiösen Symbolen und Zeremonien bis hin zu afrikanischen Zopffrisuren und Dreadlocks oder Karnevalskostümen angeblicher Indianer und Chinesen. Der kulturelle Wert wird dabei missachtet. Kritiker dieser Meinung sehen darin eher ein Zeichen der Bewunderung und einen Beitrag zur Vielfalt. Kultur sollte man aus ihrer Sicht als etwas Dynamisches wahrnehmen, die Trennung und Zuweisung würde einer reaktionären Vorstellung von „kultureller Reinheit“ entsprechen. Ein Ursprung sei oft gar nicht mehr erkennbar und die subjektive Freiheit würde beeinträchtigt.

Von Minderheiten und Einwanderern wird für ihre Integration die Aneignung einer vorherrschenden „Leitkultur“ zum Teil sogar gefordert. Es gibt auch Beispiele für die selektive Aneignung durch unterdrückte Gruppen als Form des stillen Protestes gegenüber einer sie dominierenden Macht. Das können beispielsweise kleine Änderungen am Kleidungsstil sein, die innerhalb der Gruppe als Abwehr verstanden werden. Auch das Weiterleben vorchristlicher Vorstellungen und Rituale nach der christlichen Missionierung zählt hierzu.

Wie weit dürfen sich also Schriftsteller, Designer oder Musiker von anderen Kulturen oder den Erfahrungen von Betroffenen inspirieren lassen? Kultur beruht immer auch zum Teil auf der Verwendung und Bearbeitung von Motiven aus anderen Zeiten und Räumen, auf Zitaten und Montagen. Die Grenze zwischen aufrichtigem Interesse an einer anderen Kultur, kulturellem Austausch und kultureller Aneignung ist nicht immer klar – sie wird aber eindeutig überschritten, sobald eine privilegierte Gruppe Artefakte marginalisierter Kulturen aus wirtschaftlichen Interessen, zur Unterhaltung oder als modisches Accessoire benutzt.

Beispiel: Musselin, Kaschmirschal und Paisley-Muster

Pauline trägt ein Kleid aus weißem Musselin und einen Kaschmirschal mit Paisley-Muster. Das entspricht der Mode des Empire in der Zeit nach der Französischen Revolution, als man sich an der griechischen Antike orientierte.

Musselin ist nach der Stadt Mossul im heutigen Irak bezeichnet, die einst ein wichtiges Handelszentrum war. Der feine Baumwollstoff stammt aus dem heutigen Bangladesch – ursprünglich um die Hauptstadt Dhaka. Bangladesch gehört zur historischen Region Bengalen, wo die Britische Ostindien-Kompanie ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zum bestimmenden Machtfaktor in Indien wurde und die fast 200 Jahre bestehende britische Kolonialherrschaft über Indien begründete. Musselin wurde zu einer Luxusware für reiche Europäerinnen. Die französische Königin Marie Antoinette, die ihren Kopf unter der Guillotine verlor, trug unter ihren üppigen Seidenkleidern Unterwäsche aus Musselin und Joséphine de Beauharnais, erste Ehefrau von Napoleon, besaß mehrere Kleider aus diesem Stoff. Indisches Musselin wurde auch für die Dresdner Weißstickerei verwendet, die im 18. Jahrhundert unter dem Namen Point de Saxe in ganz Europa begehrt war und in anderen Ländern auch imitiert wurde, beispielsweise in Schottland als Ayrshire Stickerei.

Als wärmendes Accessoire zu den dünnen Musselin-Kleidern wurde der Kaschmirschal beliebt. Die Region Kaschmir liegt heute im Grenzgebiet von Indien und Pakistan. Die beiden Staaten entstanden 1947 mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft durch die Teilung Britisch-Indiens in ein hinduistisch geprägtes Indien und ein muslimisch geprägtes Pakistan, von dem dann noch Bangladesch abgespalten wurde. Auch die Kaschmirziege erhielt ihren Namen nach der Region. Aus ihrer feinen Wolle wurden die Schals gewebt und danach oft aufwändig bestickt.

Mit den Kaschmirschals gelangte ein beliebtes Motiv der Stickereien der Region nach Europa, das wir heute als Paisley-Muster kennen. Es stammt ursprünglich aus dem persischen Kulturraum mit dem heutigen Iran als Zentrum, und wurde dort als Buteh bezeichnet. Durch enge Beziehungen gelangte es nach Indien. Ab dem 19. Jahrhundert wurden Kaschmirschals in Europa kopiert. Ein europäisches Zentrum der Produktion wurde die schottische Stadt Paisley, wo mehr als siebentausend Weber damit beschäftigt waren. Heute ist das Paisley-Muster eines der wenigen nicht-geometrischen Muster, die weltweit von jedermann verwendet werden.

Beispiel: Wax Prints

Wax Prints sind in West- und Zentralafrika Teil der Alltagskultur. Es sind industriell gefertigte Baumwollstoffe mit bunten Batikmustern, worauf noch der Name „wax print“ hinweist. Batik ist eine Reservefärbetechnik, bei der Muster vor dem Färben im Tauchbad mit einer farbabweisenden Masse aufgetragen werden. Häufig wurde dafür Wachs verwendet. Das Verfahren stammt ursprünglich aus dem südostasiatischen Inselstaat Indonesien.

Mit der Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung und der Entdeckung Indiens stießen die Portugiesen als erste europäische Macht im 15. Jahrhundert weit in den Indischen Ozean vor und bauten danach Stützpunkte für den Gewürzhandel auf. Ihnen folgten Spanier, Niederländer und Engländer. Anfang des 17. Jahrhunderts konnten sich die Niederländer durchsetzen und fast 350 Jahre lang kontrollierten sie dann die Region. Die Niederländische Ostindien-Kompanie war im 17. und 18. Jahrhundert eine der größten Handelsorganisationen. Das Hauptquartier der Handelsschifffahrt befand sich in Batavia, der heutigen indonesischen Hauptstadt Jakarta, auf der Insel Java. 1799 wurde Indonesien eine niederländische Kolonie. Die Holländer brachten die indonesische Batik Ende des 16. Jahrhunderts nach Europa. Englische Fabriken in Manchester entwickelten eigene Designs und Techniken für eine industrielle Produktion und verkauften die Stoffe in ihren Kolonien in Westafrika.

Der Niederländer Frederik Hendrik Fentener van Vlissingen besaß eine Zuckerplantage auf der Insel Java. Zusammen mit seinem Neffen gründete er 1846 im niederländischen Helmond das Unternehmen Vlisco. Frachter der Niederländischen Ostindien-Kompanie machten auf ihren Handelsrouten nach Java Station an der westafrikanischen Küste im heutigen Ghana. Elmina war hier der erste europäische Militär- und Handelsstützpunkt südlich der Sahara. Mit den christlichen Missionaren kamen auch strenge Kleidervorschriften nach Afrika, was den Stoffhandel zusätzlich beförderte. Seither entstanden bei Vlisco in industrieller Fertigung mehr als 350.000 Designs für Wax Prints. Mit seiner Marke „Ghana Textile Printing“ produziert das Unternehmen inzwischen auch in Afrika und unterstützt Modedesigner und Modefotografen.

Beispiel: African Lace

Im westafrikanischen Mali konnte man eine 900-jährige Sticktradition nachweisen. Die früheren Reiche hier kontrollierten den Handel durch die Sahara. Im späten 19. Jahrhundert wurde Mali Teil der französischen Kolonie Französisch-Sudan. Es leben hier Menschen verschiedener Sprachen und Kulturen – Zuordnung und Grenzen sind zum Teil Konstrukte aus der Kolonialzeit. Auch im heutigen Nigeria gab es alte Handelszentren mit Verbindungen zwischen dem Süden, Nordafrika und dem Mittleren Osten. Die Islamisierung beeinflusste die Stickerei, als dann die herrschende Oberschicht nach entsprechender Kleidung verlangte.

Die bestickten Gewänder der Afrikanerinnen und die Unabhängigkeit Nigerias 1960 nach einer Zeit als britische Kolonie begründeten in den 1960er Jahren enge Geschäftskontakte ins österreichische Vorarlberg, wo die Textilindustrie bis in die 1970er Jahre hinein vorherrschend war. Zentrum der Produktion war Lustenau. Mit der benachbarten Schweiz und Sachsen zählte Vorarlberg zu den drei führenden europäischen Zentren für industrielle Stickerei. Für die industriell gefertigte Spitze wird ein Gewebe bestickt, das danach in einem chemischen Prozess weggeätzt wird – zurück bleibt ein durchbrochener Stoff, der an Klöppelspitze erinnert. Die Stickereien aus Vorarlberg wurden vor allem zu den Yoruba in Nigeria exportiert, das nach vorübergehenden Importverboten heute wieder einer der wichtigsten Absatzmärkte ist. Mit dem Handel der Yoruba verbreiteten sich Stoffe und Designs dann weit über Nigeria hinaus. Kleidung mit Stickereien und industriell gefertigter Spitze wird vorwiegend zu festlichen Anlässen getragen. Vor großen Festen verkaufen die Gastgeber Stoffe an ihre Gäste, damit sich diese daraus ihre Kleider nähen lassen können.

Beispiel: Tracht der Herero in Namibia

Die Herero sind ein ehemaliges Hirtenvolk, das überwiegend in Namibia lebt. Zu festlichen Anlässen tragen die Frauen eine Tracht, die an die Kleidervorschriften rheinischer Missionare in der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika erinnert. Die Kleider entsprechen im Stil der viktorianischen Mode am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Kopfbedeckungen sind Rinderhörnern nachempfunden. Das ist ein gutes Beispiel für kulturelle (Zwangs-)Aneignung, und wie mit eigenen Details gleichzeitig der innere Widerstand gezeigt wird.

Die Kolonie Deutsch-Südwestafrika existierte von 1884 bis 1915. Im Oktober 1904 erließ der Oberkommandierende der deutschen „Schutztruppen“ Lothar von Trotha einen Vernichtungsbefehl innerhalb der deutschen Grenzen, von dem vor allem die Herero und Nama, aber auch andere Bevölkerungsgruppen betroffen waren. Der Völkermord wird von deren Nachkommen als deutsch-namibischer Krieg bezeichnet. Von deutscher Seite wurde er lange als Bekämpfung von Aufständen verharmlost und schließlich 2021 anerkannt. Bei Gedenkveranstaltungen ehren die Herero ihre Vorfahren in militärischen Gewändern, die an die Kleidung der deutschen Soldaten angelehnt und mit selbst entworfenen Details verfremdet sind.

Beispiel: Blaudruck

Die Niederländische Ostindien-Kompanie brachte den Blaudruck zusammen mit der Färberpflanze Indigo im 17. Jahrhundert aus Südostasien nach Europa. Im
18. und 19. Jahrhundert war er vor allem in Mitteleuropa sehr verbreitet. 2018 zeichnete ihn die UNESCO als gemeinsames immaterielles Kulturerbe von Deutschland, Österreich, Tschechien, der Slowakei und Ungarn aus. Es existieren nur noch wenige Betriebe, die diese Technik beherrschen. Man hofft nun, das Interesse junger Handwerker wieder dafür zu gewinnen. Der Blaudruck gehört auch in Ostasien (besonders Japan) sowie in Westafrika (besonders Guinea, Mali und Nigeria) zum traditionellen Kulturerbe.

Der Blaudruck ist ein Reservedruckverfahren zum Färben von Naturfasern. Mit Hilfe von Modeln wird sogenannter „Papp“ aufgetragen – eine Paste, die beim anschließenden Färben im Tauchbad verhindert, dass der Stoff dort die Farbe annimmt. Es wurden dafür verschiedene Rezepte entwickelt, in Japan verwendet man beispielsweise eine Reispaste. Die Werkstätten geben ihre Variante meist als Betriebsgeheimnis nur innerhalb eines engen Kreises an andere weiter.

Die älteste noch aktive Blaudruckerei Europas befindet sich in Einbeck (Deutschland/Niedersachsen). Sie wurde 1638 gegründet. Die Familie Fromholzer in Ruhmannsfelden (Deutschland/Bayern) pflegte mehr als 300 Jahre lang die Tradition des Textildrucks. Neben einer eigenen umfangreichen Sammlung an Mustern übernahm man auch die Model der Firma Wallach in München. Die Brüder Wallach spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der bayerischen Trachten und Volkskunst. Auch bei den Sorben gehört der Blaudruck zum traditionellen Kunsthandwerk. Die Sorben bzw. Wenden sind eine westslawische Minderheit, die in der Oberlausitz (Deutschland/Sachsen), in der Niederlausitz (Deutschland/ Brandenburg) und im angrenzenden Polen zuhause ist. Daher blieb der Blaudruck auch in Sachsen erhalten – die sorbische Tradition wird vor allem in Pulsnitz gepflegt. In Coswig befindet sich die Blaudruckerei Folprecht.

Unter dem Aspekt der kulturellen Aneignung stehen die Blaudrucker von Erfurt aus historischer Sicht nicht mit dem Blaudruck in Verbindung, der mit der Niederländischen Ostindien-Kompanie nach Europa gekommen ist – aber Entwicklung ist ja ein Prozess und früher oder später verwischen sich die Konturen. Die Stadtgeschichte Erfurts ist eng mit der blauen Farbe des Färberwaids verbunden. Die Pflanze wurde vom 9. bis ins 19. Jahrhundert im Thüringer Becken angebaut, und Erfurt war das Handelszentrum in Deutschland am Schnittpunkt alter Handelsstraßen. Den Ausgangspunkt bildete eine Landwirtschaftsreform nach römischem Vorbild durch Karl den Großen. Sie sollte bessere Erträge bringen und Exporte ermöglichen. Er führte die Dreifelderwirtschaft ein, und eine wichtige Rolle spielten auch Färberpflanzen. Sie wurden zu einer begehrten Handelsware vor allem bei den Slawen und in England, und die Färberei entwickelte sich zu einer angesehenen Zunft. Überanspruchte Böden, die Ausbreitung von Schädlingen und der Dreißigjährige Krieg beförderten den Niedergang. Mit dem Import von Indigo durch die Ostindien-Kompanie geriet der Färberwaid dann ins Hintertreffen, da Indigo die etwa dreißigfache Menge an Farbstoff liefert. Auch die Verwendung von Modeln für „block print“ und „blue print“ ist vor allem in Südostasien verbreitet.

In Oberösterreich gibt es ein Färbermuseum in Gutau, wo auch ein internationaler Färbermarkt organisiert wird. Nicht weit entfernt ist die Blaudruckerei der Familie Wagner in Bad Leonberg. Im österreichischen Burgenland wird Blaudruck in Steinberg von der Familie Koó hergestellt. Die letzten Blaudruckereien in Tschechien befinden sich in Mähren – Familie Danzinger ist in Olešnice in der Nähe von Brünn, Familie Joch in Strážnice in der Nähe der Grenzen zu Österreich und der Slowakei zu Hause. Blaudruck aus der Slowakei bekommt man in den regionalen Zentren für Volkskunst in Bratislava, Banská Bystrica und Košice. Bácsalmás liegt im Süden Ungarns. Die Werkstatt der Familie Skorutyák wurde 1879 gegründet.

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Christine Ober studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Germanistik. Sie hat ein Kulturbüro mit Schwerpunkt Textilien und ist bei der Handwerkskammer München und Oberbayern mit mehreren Textiltechniken registriert.
(www.co-verlag.de)